Royal Enfield Interceptor 650 im Test: Modelljahr 2022

Klassisches Design trifft auf moderne Technik

Der Name Royal Enfield ist für mich nachhaltig mit kolonial-indischen Motorrädern gusseiserner Bauform verbunden, praktisch unkaputtbar und fast nie verändert. Um so gespannter darf man sein, wenn die Marke einen Relaunch startet und über modular aufgebaute Bikes und 3 Motorvarianten um die Gunst der Fahrer buhlt.

Ersteindruck und Vorfreude: Die Interceptor in Ventura Blue

Royal Enfield Deutschland stellte mir für 14 Tage eine Interceptor 650 zur Verfügung, nachdem ich eine Continental GT angefragt hatte, die dann leider nicht verfügbar war. Kommentar des Händlers: „Ist ja sowieso das gleiche Motorrad“, womit er nicht ganz Unrecht hat, unterscheiden sich die beiden Modelle doch letztendlich nur durch eine andere Sitzbank und die Lenker-Konfiguration. Meine minimale Enttäuschung war dann auch recht schnell weg, als mir eine Interceptor in Ventura Blue vorgesetzt wurde. Ich liebe blau!

Und schon ging es los. Draufgesetzt, Federung getestet und Zündung gedrückt. Wie ein erhabener Traktor erbebt der massige Zweizylinder zum Leben und schiebt die Inty vorwärts in zwei Wochen lustiger Touren und neuer Erkenntnisse hin zu einem Abschied mit Wehmut.

Kalifornisches Flair oder britische Tradition? Ein Stil-Mix

Royal Enfield feiert mit der Interceptor das Comeback einer Legende, welche an kalifornische Sonne und surfbare Wellen erinnern soll. Wer die Verbindung einer britisch-indischen Motorradmarke der Vergangenheit und kalifornischen Surfer nicht griffig findet, dem geht es wie mir.

Sicherlich ist die Interceptor mit moderner Technik versehen – Zweikanal-ABS, LED-Beleuchtung und LCD-Inlay im Analog-Tacho. Und natürlich bedient sich die Designsprache des Bikes an klassischen Formen der Naked Bikes der späten 60er Jahre bis 80er Jahre. Die Speichenräder, der klassisch gehaltene Look eines luftgekühlten Zweizylinders der flüssiggekühlt ist, welcher visuell an Vergaser anlehnt, jedoch elektronisch eingespritzt wird.

Es ist irgendwo die von Royal Enfield beworbene Verbindung von klassischem Charme und Moderne. Und dennoch ist die Interceptor ein ganz eigenes Bike welches sich gerade durch diese Kreuzung hervortut. Das Fahrwerk ist in Kooperation mit dem legendären Harris Performance Team entwickelt worden, und ich oute mich hier gerne als unwissend und generell Sportfahrwerk-fahrend, aber als ausgesprochen besonders habe ich das Fahrwerk nicht erlebt. Einstellbar, grundsolide bequem und teilweise etwas weich ist es definitiv.

Und dennoch bin ich mir nicht sicher ob Royal Enfield bei der Interceptor nicht etwas zu stark auf die Heritage-Drüse drückt.

Ein blauer Abfangjäger.

Ich war durchaus in der Lage, die Inty auf knapp 1500 km auf Herz, Nieren und sonstige Kinderkrankheiten zu testen. Auch hier sei nochmal gesagt, dass ich sonst eher sportlich fahre und die Inty besonders in dem Aspekt an ihre StVO-Grenzen gebracht habe.

Doch fangen wir mit dem Herzstück an – dem Twin. Bullig, schwer und kräftig kommt er daher, mit einem Druck auf den E-Starter hat man kurz das Gefühl ein Dieselmotor kurbelt los, nur um dann in ein dezentes Surren überzugehen. Für mich hat sich die dieselnde Nähmaschine damit schon hervorgetan. Untertourig blubbert und scheppert es, in höheren Drehzahlen stichelt der Twin wie auf chemischen Drogen los. Bei maximal 7000 Umdrehungen muss man jedoch keine konstanten Drehorgien feiern, der Motor ist solide, gering verbrauchend und relativ laufruhig.

Fahrgefühl und Performance: Der bullige Twin-Motor

Die Balance aus 648 ccm und 48 PS gibt eine gute Mischung aus Durchzug und Überholmanövrierbarkeit. Beim Verzögern wird es dann etwas schwieriger – beim beherzten Zugreifen arbeitet das ABS einwandfrei bis zu dem Punkt, wo die Vordergabel über den Asphalt springt, da dann feuchte 217 kg nach vorne drücken. Was hilft, sind die beherzt zugreifenden Bremskolben, welche in 320 mm / 240 mm Scheiben beißen.

Bremsen und Fahrwerk: Sicherheit auf Touren und in Kurven

Hier wundere ich mich immer wieder, wieso nicht alle Hersteller auf Mehrkanal-Combined ABS Systeme setzen, gerade bei Bremsungen auf nicht gerader Strecke macht dies einen himmelweiten Unterschied.

Besonders wenn die Inty in Kurven beherzt vorne eingebremst wird, braucht man viel Kraft in den Armen, um den Lenker zu fixieren. Die Gabel ist an und für sich sehr stabil und wertig, aber in wechselnden fahrdynamischen Situationen wirkt sie sehr instabil.

Lenkverhalten und Komfort: Ein Bike mit Tücken

So kommen wir dann auch zum nächsten auffälligen Punkt: das Lenkerschlackern. Via Social Media konnte ich dies als recht weit verbreitetes Problem der Inty wahrnehmen. Bei mittlerem Tempo und Fahrt ohne Hände am Lenker zeigt die Inty einen wunderbaren ruhigen Geradeauslauf, doch schlackert der Lenker. Hintergrund dürften ungleiche Federn, inkorrekte Gabelöl-Füllungen oder ausgeschlagene/defekte Lager sein. Die Lösung ist entweder ein Gabelservice oder die Hände am Lenker lassen. Dieser ist recht breit und der Winkel der Griffe recht gerade, dies führte bei mir auf langen Fahrten zu Gelenkschmerzen. Aber auch das ist ein ganz individuelles Problem, was sich zur Not leicht lösen lässt.

Fahrkomfort und Ergonomie: Ideal für längere Touren

Kommen wir wieder zu den guten Seiten der Inty – und derer gibt es viele! Die Sitzbank ist couchartig – bequem, groß – und gibt dennoch guten Halt. Die Kippwilligkeit des Bikes ist durch den hohen Schwerpunkt speziell, aber man gewöhnt sich fix daran und kann das Bike dann wirklich wunderbar durch die Kurven zirkeln. Das Bike fährt unglaublich stabil, ruhig und gleichmäßig und ist daher für entspannte Tagestouren oder auch längere Einsätze gut geeignet. Der geringe Verbrauch macht die Reichweite trotz knapp 14l Tankinhalt beachtlich, ich kam über 350 km weit bei normaler Fahrweise.

Und genau hier hat die Interceptor 650 ihre Stärken. Ein pflegeleichtes, entspanntes Bike. Irgendwie muss man dann gegebenenfalls doch an kalifornische Strände denken. Unkompliziert. Und vielleicht hat Royal Enfield das gemeint, als sie von klassischem Charme und moderner Technik sprachen.

Man könnte auch sagen: Draufsetzen und wohlfühlen. Für alle, die einfach ein Bike wollen, welches als Daily Commuter genauso geeignet ist wie für kurze oder lange Touren. Für alle, die keinen Nervenkitzel brauchen, sondern mehr Easy Rider.

Umbaupotenzial: Basis für ein Custom-Bike?

Ein Gedanke noch beim Abholen (und mein persönlicher Spleen) war: boah, da könnte man hier das Heck kürzen und da Stummel dran und andere Federn sowie Endschalldämpfer für mehr umph! – aber dann könnte man sich auch die Continental GT kaufen.

Marktpositionierung und Preis-Leistungs-Verhältnis

Dennoch denke ich, wer für einen relativ guten Preis von aktuell 7000 € UVP eine Basis für einen Umbau oder ein Customizing braucht, kann hier durchaus zuschlagen – sofern man mit den Motorcharakteristika klarkommt. Man kann sicherlich den Sound der Abgasanlage anpassen, auch Heck und Cockpit sowie Lenker etwas klassisch-dynamischer gestalten.

Was jedoch zu beachten ist, ist das gefühlte Fahrgewicht der Inty. Um hier etwas zu ändern wären Fahrwerksanpassungen als auch massive Gewichtsreduzierungen nötig, damit ein Café Racer entstehen könnte.

Und da bin ich ganz bei Royal Enfield – da kann man sich dann auch eine Continental GT kaufen, oder ganz klassisch alte Eisenschweine oder Joghurtbecher der 70er/80er Jahre.

Die Interceptor schafft den Spagat zwischen klassischem Design mit ein paar modernen Fahrelementen schon recht gut. Die Persönlichkeit, die dem Bike hierdurch entstanden ist, braucht keine grundlegenden Umbauten. Die Inty darf so bleiben, wie sie ist.

Marktpositionierung

Für wen ist die Interceptor 650 also ein passenden Bike?

Eher zufällig stand ich während einer Runde mit der Inty neben einem Freund an der Ampel. Er fährt eine alte Triumph Bonneville. Und irgendwie war es wie in einen Spiegel zu gucken. Wenn man mal von der unterschiedlichen Fahrseite der Antriebskette absieht und eins, zwei Kleinigkeiten hätte man die beiden Bikes für Schwestern halten können.

Immer mehr neue Anbieter drängen auf den Markt klein- oder mittelgroßer Hubraum-Motorräder. Und fast ganz normal werden marktrelevante Design- und Technikaspekte anderer Hersteller aufgenommen. Ich glaube, man kann davon ausgehen, dass auch Royal Enfield ähnlich Überlegungen hatte und mit dem modularen Design- und Motorsystem zu einem sehr positiven Preis auf den europäischen Markt trat. Und so kommt es immer mal zu großen Ähnlichkeiten mit anderen Herstellern.

Wollte Royal Enfield die Triumpf Bonny kopieren? Ich glaube nicht. Wenn jemand nun aber ein klassisches Bike möchte, die Preise, die Triumph aufruft, jedoch zu hoch sind – wieso dann nicht eine Interceptor kaufen? Meiner Meinung nach stellt die Interceptor hier einen guten Kompromiss dar.

Und ich glaube fest daran, dass Royal Enfield hiermit ein guter Einstieg in den Markt gelungen ist, und Royal Enfield auch auf Marktbewegungen achtet. Denn die neuen Modelle werden wohl stärkere Motoren haben. Eventuell wird es bald eine Interceptor geben, die dann auch die Power hat, um dem Namen ‚Abfangjäger‘ gerecht zu werden …

Fazit: Ein Classic-Bike für Einsteiger und Liebhaber

Ohne bestimmte Erwartungen trat ich an die Inty heran, und war positiv überrascht. Klar, sie ist nicht mit 25.000 € Sportbikes vergleichbar. Aber das will sie ja auch nicht. Die Inty ist ein grundsolides entspanntes Bike, mit dem man auch mal sportlich am Hahn ziehen kann, oder ganz entspannt neben einer Harley her tuckert. Und diese Gutmütigkeit des Motors, die recht präzise Lenkung, die Bequemlichkeit und die ausreichende Basisausstattung haben mich die Inty dann doch recht wehmütig vermissen lassen, als ich sie wieder beim Händler abstellte.

Die Interceptor 650 ist ein gutes Bike für Anfänger (A2), Wiedereinsteiger oder Menschen, die Zuverlässigkeit, Gemütlichkeit und visuelles Heritage schätzen. Meine Befürchtungen, ein trockenes ruhiges Bike zu fahren wurden zerschlagen, au contraire!

Ich habe eine sehr ausgeglichene Maschine kennengelernt, welche auch mal die Zähne zeigen kann. Sie hat mir verdammt viel Spaß gemacht, hat Lächeln in Gesichter gezaubert und tatsächlich oft zu interessierten Gesprächen mit Neugierigen geführt.

Nur eines ist sie nicht – ein Abfangjäger …

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